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Fruchtbare Dissonanzen in der Alpenmusik

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Die 6. Austragung des Musikfestivals «Alpentöne» von 2009 in Altdorf war ein voller Erfolg.

In der Alpenwelt um Altdorf dröhnt das 21. Jahrhundert. Motorräder, Autos und schwere Lastwagen rasen am Tell-Denkmal vorbei. Flugzeuge und Helikopter fliegen durchs Tal. Der Fernverkehr grollt vom Berg her. Viele Musikerinnen und Musiker der sechsten Alpentöne-Ausgabe haben dieses Wimmern und Dröhnen längst in ihre Musik integriert. Den Extrempunkt setzten das elektronische Musik-Theater «Lindemich» und sein Projekt «Heimat Vers. 2.0». Mit der Geigerin und Jodlerin Christine Lauterburg verabreichte das Ensemble dem Tellspielhaus radikale, laute Stromstösse und sinnierte über den Begriff der Heimat. Auch wenn viele Zuschauer den Saal verliessen, waren nur wenige wirklich überrascht: Lärm und Dissonanzen haben in den Alpen ihren festen Platz und seit 1999 auch an diesem Festival. Es profitiert davon, dass sich Jahr für Jahr mehr Musiker und Künstler des Themas Alpen annehmen. Der neue Festivalleiter Johannes Rühl wählte sehr geschickt aus und machte die diesjährige Ausgabe zur vielleicht besten überhaupt.

Brodelnde Szene

Die zahlreichen künstlerischen Höhepunkte vermochten gar zu überdecken, dass es in der Szene brodelt. Eine aufstrebende, neue Generation von «Alpenmusikern» sucht selbstbewusst ihren Platz in der hiesigen Musiklandschaft. Sie entspringt nicht mehr bloss der Jazzschule, dem Konservatorium oder der Hochschule der Künste, sondern den verschiedenen lokalen Volksmusikszenen. Diese Musiker sind ebenso Musikanten wie Künstler. Einer von ihnen ist Marcel Oetiker: Ein Virtuose auf dem Schwyzerörgeli, spielt er sein Instrument im Jazz-Kontext. Am Alpentöne-Festival überzeugte er mit seinem Trio dank Technik und musikalischem Draufgängertum.

Ihre Musik spielten Marcel Oetiker und andere dieser jungen Volksmusiker lange weder an den lokalen Ländlerfesten noch in den städtischen Konzerthäusern und Klubs – an den Altdorfer Alpentönen finden sie nun ihre adäquate Bühne. Da die Szene weniger eine Revolution sucht als eine sanfte Erneuerung aus dem Innern heraus, werden ihre neuen Ansätze vom Kulturbetrieb gelegentlich als traditionell fehlgedeutet. Als innovativ hingegen gelten oft Jazz-Musiker und die Interpreten und Komponisten von neuer Musik, die mit volksmusikalischen Elementen neue Akzente setzen. Hier die Bewertungskriterien zu verschieben, daran arbeiten zurzeit viele Akteure.

Einer von ihnen ist das Haus der Volksmusik in Altdorf. Im Rahmen der Alpentöne stellte dieses Kompetenzzentrum ein Forschungsprojekt zum Schwyzerörgelispiel von Josef Stump (1883 bis 1929) und Balz Schmidig (1894–1949) vor. Zunächst wurden die knisternden Originalaufnahmen ab Tonträger eingespielt, danach von Alois Lüönd, Seebi Schmidig, Daniel Schmidig und Reto Grab live umgesetzt. Melodie- und Begleitörgeler sowie Kontrabass schufen eine virtuose, vielseitig klingende Musik. Die Melodien wurden dabei nicht endlos wiederholt, sondern raffiniert variiert und erweitert. Die Volksmusik kehrt hier zurück, wo sie letztlich herkommt, wie der Musikethnologe und Volksmusik-Experte Dieter Ringli in einem einführenden Referat feststellte: «Volksmusik war einst Tanz und Unterhaltungsmusik. Die einzelnen Formationen standen in Konkurrenz zueinander, und sie mussten sich ihr Publikum erobern. Nur wer da Neues, Witziges und Unterhaltsames spielte, wurde engagiert. Mit der Pflege der Volksmusik sind diese Kriterien eher in den Hintergrund gerückt. Heute sind sie wieder da.»

Draufgängertum und Risikofreude

Auf Nachfrage nennen viele Künstlerinnen und Künstler Adjektive wie «gut gespielt», «draufgängerisch», «abwechslungsreich» und «riskant» als Kriterien für gute Musik. Sie führen dabei die kulturpolitische Debatte über Volksmusik und Volkskultur letztlich ad absurdum – oder sie zeigen, dass es da vielleicht gar nicht so sehr um die Musik geht. So unterschiedlich die Konzerte und Performances am Festival auch waren, für die stärksten Momente gaben immer genau diese Aspekte den Ausschlag: Zusammenspiel im Ensemble, grossartiges musikalisches Handwerk, Dringlichkeit im Spiel, Variantenreichtum und Witz. Das Quartett um den Saxofonisten Max Nagl stob, von österreichischen Hochzeitsmelodien ausgehend, in alle Richtungen auseinander, um dann auf vertrackten Wegen wieder zusammenzufinden. Ähnlich wirkte auch die Musik des begnadeten Schweizer Sopransaxofonisten Daniel Schnyder. Er spielte Ländler im ⁷/₈-Takt, schlug Brücken bis zur 12-Ton-Musik und wirkte dabei nie verkopft, sondern immer als draufgängerischer Musikant, der vielseitig und überraschend mit seinen Mitmusikern interagierte.

Das Wichtigste am Alpentöne-Festival ist vielleicht, dass es musikalische Nischen kontrastierend nebeneinanderstellt und Verbindungen zwischen verschiedenen «Geschmackskulturen» schafft. In unserer digitalisierten und globalisierten Welt sind die Gräben zwischen städtischer und ländlicher Kultur wahrscheinlich tiefer denn je zuvor. Die junge Generation von Volksmusikern und ein Festival wie Alpentöne sind da um so wichtiger. Und spielen sie so toll auf wie dieses Wochenende, dann sowieso.

Podcast zum Festival Alpentöne 2009


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